Ungebrochen solidarisch!
Heraus zum 1. Mai
Interview mit Ulli Schneeweiß

Erlanger Rot - Ausgabe 2/2023Ulli Schneeweiß ist Vorsitzender des Archivs der Arbeiter*innen und Gewerkschaftsbewegung Raum Nürnberg e.V.

Erlanger Rot: Der diesjärige DGB-Aufruf steht unter dem Motto "Ungebrochen solidarisch". Was bedeutet für dich in der heutigen Zeit Solidarität?

Ulli Schneeweiß: Tatsächlich droht der wohlklingende Begriff "Solidarität" etwas sinnentleert zu werden. Klar, irgendwie gehört Solidarität zur Gewerkschaft dazu, aber: Mit wem oder für welches Ziel sollen wir solidarisch sein? Was bedeutet das für jeden Einzelnen von uns? Solidarität wird inzwischen oft verwechselt mit selbstlosem Altruismus oder mit dem Eintreten für Schwächere gleichgesetzt. Das verkennt jedoch das Wesentlichste von Solidarität: Die Erkenntnis, dass meine Interessen mit denen einer ganzen Gruppe von Menschen gleich sind. Wenn ich mich für diese Gruppe einsetze, setze ich mich also zugleich für meine eigenen Interessen ein. Die Interessen der allermeisten abhängig Beschäftigten sind in weiten Teilen gleich: Sie wollen mit ihrer Arbeitskraft ein finanziell auskömmliches Leben sichern, ausreichend planbare Freizeit haben und in der Arbeit fair behandelt werden.

In diesem Sinne faire Arbeitsbedingungen in einer Branche strahlen zugleich auf andere aus. Das beste Beispiel dafür ist der gesetzliche Mindestlohn: Die solidarische branchenübergreifende Kampagne dafür hat nicht nur zu dessen Einführung geführt, sondern zu einer breiten Debatte darüber, was angemessenes Leben und angemessene Entlohnung ist.

Solidarität bedeutet also schlichtweg, die eigenen Interessen zu erkennen und diese in einen größeren kollektiven Zusammenhang zu stellen. Nur durch so verstandene Solidarität unter Lohabhängigen finden dann die scheinbar völlig unterschiedlichen Lebenswelten wie die einer Bankkauffrau, eines Erziehers oder etwa eines Müllwerkers zusammen.

Gegenwärtig überziehen zu Recht Streiks in diversen Branchen das Land vor dem Hintergrund der Tarifrunden bei Bahn, im Öffentlichen Dienst, im Einzelhandel, KfZ-Handwerk oder auf den Flughäfen. Siehst du die hohen Forderungen der Gewerkschaft ver.di, IG Metall und der EVG als berechtigt?

Ulli SchneeweißAuf den ersten Blick könnte man tatsächlich von vergleichsweise hohen Forderungen sprechen. Wenn wir uns den TVöD ansehen, bewegten sich in den letzten 15 Jahren die Erhöhungen der Entgelte immer so zwischen einem und dreieinhalb Prozent pro Jahr. Da erscheinen dann Forderungen von über 10 Prozent dem Einen oder der Anderen schnell als maßlos. Die Forderungen der Gewerkschaften orientieren sich jedoch nicht an solchen Begriffen, sondern an ökonomischen und politischen Notwendigkeiten. Ein Faktor der Forderungsfindung ist dabei natürlich der Preisanstieg - und da hatten wir in den 70er/80er-Jahren des letzten Jahrhunderts ähnliche Entwicklungen wie aktuell. Etwa 1974, als die Inflationsrate bei über 7 Prozent pro Jahr lag, erreichte die ÖTV nach drei Streiktagen im Erzwingungsstreik eine Tarifsteigerung von 11 Prozent, mindestens jedoch 170 D-Mark. Aktuell habe wir ähnlich hohe Inflationsraten. Jeder Tarifabschluss unterhalb der Teuerung bedeutet Reallohnverlust. Mit dem erhaltenen Netto kann also nicht mehr dieselbe Menge an Waren wie zuvor erworben werden, der Lebensstandard sinkt.

Doch es wäre völlig verfehlt, eine Tarifforderung nur auf einen Inflationsausgleich zu beschränken: Es geht den Gewerkschaften ja um das Erstreiten eines gerechten Anteils am erwirtschafteten Volkseinkommen und da muss selbstverständlich auch der durch die Arbeitnehmer*innen erwirtschaftete volkswirtschaftliche Entwicklung berücksichtigt werden. Dieses sogenannte Volkseinkommen wuchs auch während Corona weiter und war letzten Jahr um einen Produktivitätszuwachs von 3,6 Prozentpunkten reicher als im Vorjahr. Nur wenn sowohl Inflationsrate als auch allgemeiner Produktivitätszuwachs sich im Tarifergebnis voll widerspiegeln, verändert sich die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht zu Lasten der Arbeitnehmer*innen. Man spricht deshalb auch von "verteilungsneutralem Spielraum" Wollen wir darüber hinaus die stark ungleiche Vermögensverteilung in diesem Land ausgleichen, müssen wir noch darüber hinaus einen dritten Faktor in die Lohnforderungen einfließen lassen, die sogenannte Umverteilungskomponente. Demnach wären Tarifabschlüsse von deutlich über 10 Prozent pro Jahr - nach entsprechend höheren Forderungen! - das Gebot der Stunde gewesen.

Natürlich wirken auf Tarifverhandlungen jedoch auch andere Faktoren ein: Wie steht die jeweilige Branche tatsächlich da? Wie ist das derzeitige Angebot auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt? Wie gut sind Arbeitskämpfe der Bevölkerung vermittelbar? Und natürlich: Wie ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den Betrieben? In der tariflichen Realität kommt es eben nicht nur auf das Vernünftige und Notwendige an, sondern auf die Durchsetzbarkeit.

Wie können Kolleginnen und Kollegen, die nicht davon betroffen sind, ihre Solidarität mit den Streikenden zeigen?

Sogenannte "Außenstehende"dürfen natürlich nicht selbst einfach aus Solidarität mitstreiken, da gibt es enge juristische Grenzen. Jeder und jede ist herzlich eingeladen auf einer Streikkundgebung Stimmung und Inhalte einzufangen. Aber es ist darüber hinaus immens wichtig, für diese Streiks zu werben: Im Betrieb, bei Bekannten, bei Betroffenen, auf Social Media und so weiter. Die öffentliche Akzeptanz der Streiks ist inzwischen eine der Schlüsselkomponenten für einen erfolgreichen Arbeitskampf geworden.

Wie beurteilst du die Aufgabe der Gewerkschaften allgemein in den Krisenzeiten wie jetzt. Müsste es nicht angesichts der steigenden Armut und der Inflation - unabhängig von den Tarifrunden - mehr Druck und Aktionen bundesweit geben? Die Wut ist schließlich bei allen groß.

Gewerkschaften sind mehr als Tarifmaschinen - sie treten umfassender an, um Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen zu verbessern. Dieser sozial- und allgemeinpolitische Auftrag findet sich auch in den Satzungen aller DGB-Gewerkschaften wieder. Leider ist es diesbezüglich eher ruhiger geworden in den letzten Jahren, nicht nur bei den deutschen Gewerkschaften. Ohne entsprechend große Bündnisse ging da ohnedies auch in der Vergangenheit nichts. Die Zeit der großen Sozialproteste gegen Hochrüstung, Neoliberalismus, TTIP, Sozialabbau scheint aktuell vorbei. Selbst Fridays for Future oder Generation Z scheinen zusehends frustriert. Mein Eindruck ist auch, dass Protestformen und Protestinhalte beliebiger und diffuser werden. Die von vorneherein etwas suspekte Corona-Protestbewegung wechselt ihre Themen inzwischen häufiger als die Unterwäsche und die Unmenge an Online-Petitionen hilft in der Sache auch nur selten weiter "Wut" nehme ich durchaus auch wahr, nur ist jene ebenfalls diffus und wendet sich zu pauschal gegen alles und jeden. An "Angeboten"zu einem Protestherbst 2022 gegen die Preissteigerungen mangelte es ja nicht, sondern an der Koordinierung, aber auch der breiten Akzeptanz für eine Protestwelle. Wir müssen in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen hier wirklich sehr grundsätzlich nachdenken.

Viele Kolleginnen und Kollegen blicken in diesen Tagen und Wochen auf die Arbeiterklasse in Frankreich, die sich vehement gegen den Sozialabbau und die Verlängerung des Rentenalters wehrt. Wären solche Aktionen auch in Deutschland vorstellbar?

Realistischerweise Nein. Die Tradition und Struktur unserer Gewerkschaften ist eine völlig andere als in Frankreich. Solch radikale über Wochen dauernde Straßenproteste wären in Deutschland völlig neu.

Foto: R. Löster

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