Gesundheitspolitik nach Corona Pflegekräfte am Ende? - Interview mit Tatjana Sambale
Interview mit Tatjana Sambale

Erlanger Rot - Ausgabe 3/2021Seit Beginn der 1990er Jahre bereits ist das deutsche Gesundheitssystem vielfach verändert worden. Dabei haben neoliberale Konzepte tiefe Spuren hinterlassen. Einige Leistungen werden nicht mehr vollständig von den Krankenkassen getragen, sondern müssen von den Versicherten durch Zusatzbeiträge privat bezahlt werden. Die Krankenhäuser sind durch die Fallpauschalen erheblich unter Kostendruck geraten, was sich auf Gebäude und Ausstattung negativ auswirkt, vor allem aber wird beim Personal "gespart". Ausgegliederte Reinigungskräfte und Küchen sowie völlig überlastetes Pflegepersonal sind die Folge. Dies nutzen große Klinikkonzerne bei der Übernahme von Pflegeeinrichtungen in Bereichen, wo Profite locken.

Die Corona-Pandemie hat dieses in weiten Teilen privatisierte Gesundheitssystem kalt erwischt. Die Schwachstellen sind überdeutlich geworden, der Reformbedarf ist riesig. Wie haben Bundesregierung und Gesundheitsministerium darauf reagiert? Was hat sich getan in 20 Monaten Pandemie?

Ein Interview mit der Pflegefachkraft und Betriebsrätin in einem regionalen Pflegeheim, Tatjana Sambale.

"Wobei, ich glaube einmal gab es Pizza für alle."

Tatjana Sambale ist 35 Jahre alt und arbeitet als Pflegefachkraft in einem Pflegeheim in der Region. Dort ist sie seit der Gründung eines Betriebsrates vor 1 ½ Jahren die Betriebsratsvorsitzende. Die Corona-Pandemie hat dieses in weiten Teilen privatisierte Gesundheitssystem kalt erwischt. Die Schwachstellen sind überdeutlich geworden, der Reformbedarf ist riesig. Wie haben Bundesregierung und Gesundheitsministerium darauf reagiert? Was hat sich getan in 20 Monaten Pandemie?

ER Was erscheint dir persönlich am Bedeutendsten, wenn du auf die vergangenen 20 Monate zurückblickst? Gibt es Erlebnisse oder Eindrücke aus deinem Alltag, die du mit dem Pandemiegeschehen verbindest?

Tatjana SambaleIch sehe mich noch in den ersten Wochen der Pandemie stundenlang am Waschbecken in der Umkleide stehen und minutenlang die Hände waschen, weil ich so in Sorge war, Erreger von der Arbeit mit nachhause zu bringen. Schon unter normalen Umständen führen wir im Heim oft Kämpfe um ausreichend Arbeitsmaterialien wie Handschuhe, denn so etwas ist ja ein Kostenfaktor. Die nötige und vorgeschriebene Schutzkleidung war deshalb in den ersten Monaten ein großes Thema. Später ging es dann vor allem um die zusätzliche Belastung der Kolleg*innen durch Testungen oder das Auffangen mangelnder Sozialkontakte bei unseren Bewohner*innen.

Am Bedeutendsten finde ich, dass immer mehr Kolleg*innen im pflegerischen und medizinischen Bereich nicht nur wütend ob der Zustände in unserem Berufsfeld sind, sondern viele sich auch organisieren und aktiv zur Wehr setzen. Viele haben den Punkt erreicht, an dem sie sagen "So geht es einfach nicht mehr weiter". Einige kehren dann ihrem Beruf den Rücken. Es gibt aber immer mehr, die es nicht einfach hinnehmen, für dumm verkauft und mit warmen Worten abgespeist zu werden, und die gemeinsam für Verbesserungen kämpfen. Das ist verdammt wichtig, denn nur so wird sich etwas ändern.

ER Was hat sich im Verlauf der letzten eineinhalb Jahre in deinem Arbeitsalltag verändert?

Wir arbeiten mit alten, oft auch dementiell veränderten Bewohner*innen, denen wir schon unter normalen Bedingungen oft nicht die Hinwendung und Zeit geben können, die sie eigentlichen verdienen und benötigen. Es gibt an viel zu vielen Tagen zu wenige Kolleg*innen auf den Wohnbereichen, aufgrund von Ausfällen, Krankmeldungen oder Kündigungen, die seitens des Trägers nicht kompensiert werden. Auf dieses Grunddilemma kam dann noch eine Pandemiesituation oben drauf, die, bei Corona-Verdachtsfällen, die Isolation ganzer Wohnbereiche und der Bewohner*innen in ihren Zimmern bedeutet hat. Für uns hieß das arbeiten in Schutzkleidung, mit vollem Mundschutz, 8 Stunden am Stück. Es kamen auch gänzlich neue Anforderungen hinzu, etwa, dass wir als Fachkräfte für die Durchführung der Corona-Test verantwortlich waren.

ER Welche konkreten Hilfestellungen hat es in deinem Betrieb gegeben, um mit der hohen Belastung klar zu kommen?

Keine. Wobei, ich glaube einmal gab es Pizza für alle. Und zu Weihnachten letztes Jahr persönliche Dankeskarten der Regionalleitung. Aber soweit, uns Weihnachtsgeld zu zahlen, hat die Hochachtung dann doch nicht gereicht.

ER Welche politischen Veränderungen wären aus deiner Sicht notwendig, um eine gute Versorgung pflegebedürftiger Menschen ebenso zu gewährleisten wie gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen?

Wir brauchen eine verbindliche Personalbemessung. Jetzt. Das heißt, dass gesetzlich geregelt werden muss, wieviele Patient*innen oder Bewohner*innen von wievielen Pflegepersonen zu versorgen sind. Natürlich variiert das, je nach Schweregrad der Pflegebedürftigkeit. Aber wissenschaftliche Bemessungsinstrumente für eine bedarfsorientierte Personalbemessung gibt es bereits, sie werden nur nicht angewandt. Es muss gesetzlich sichergestellt sein, dass die Betreiber von Heimen und Krankenhäusern auch dafür verantwortlich sind, und im Zweifelsfall dafür haftbar gemacht werden können, dass immer, in jeder Schicht, ausreichend Personal vorhanden ist. Wenn Kolleg*innen ausfallen, etwa wegen Krankheit oder Kündigung, liegt es in der Verantwortung der Träger, für Ersatz zu sorgen. Es ist nicht die Aufgabe der Kolleg*innen, sich in ihrem knappen Frei untereinander selbst zu vertreten! Das ist etwas, was sofort, am besten gestern, angegangen werden muss. Mittelfristig muss es zu einer Absage an die Profitorientierung im Gesundheitswesen kommen. Dass es private Anbieter in der Pflege gibt ist ein recht neues Phänomen, das zwar immer mehr um sich greift, aber vor 30 Jahren noch undenkbar war. Für wieviele Menschen war es damals schlicht unvorstellbar und völlig absurd, die Bedürfnisse älterer oder kranker Menschen der Profitlogik von Pflegekonzernen zu unterwerfen. Diese Selbstverständlichkeit gilt es wieder herzustellen.

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