Siemens & Co:
Mitbestimmung in Zeiten von Corona

Erlanger Rot - Ausgabe 2/2020Seit Jahrzehnten gehört die Siemens AG zu den weltweit größten Herstellern von Energieanlagen, von der Ausrüstung für die Öl- und Gasindustrie über Kraftwerke bis hin zu Stromnetzen. Und es war nie ein Geheimnis, dass in diesem Geschäftszweig Jahr für Jahr Milliardengewinne realisiert werden konnten - zur Freude der Anleger. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung dagegen verblieben bei mageren 6 % der Umsatzerlöse auch dann noch, als die Energiewende bereits in erste Gesetze gegossen wurde, und Hunderttausende für alternative Energieerzeugung demonstrierten. Ein wenig Produktpflege hier, ein bisschen Effizienzsteigerung bei den Gasturbinen dort, aber der große Wurf blieb aus. Im Mai 2019 verkündete Vorstandsvorsitzender Joe Kaeser die Ausgliederung der Energiesparte aus der Siemens AG. Die Margen seien zu niedrig und die Investitionskosten für die Energiewende zu hoch.

Seitdem sind an allen Standorten insgesamt über 4.000 Arbeitsplätze vernichtet worden, drei Interessenausgleiche über die Betriebe hinweggerollt, es folgte der Betriebsübergang zum Jahreswechsel, der mehrmalige Austausch der Vorstände, diverse Umstrukturierungen, und an einigen Standorten waren sogar Neuwahlen der Betriebsratsgremien notwendig. Nur eines hat sich nicht geändert: Ein Masterplan für die Zukunft der Energieerzeugung und die entsprechenden Investitionen sind nicht in Sicht, der Renditedruck steigt enorm und es sind weitere Arbeitsplätze in Gefahr. In dieser Situation interessierten sich spürbar mehr Kolleginnen und Kollegen für die Vorschläge der IG Metall zum Umbau der Industrie, für einen demokratischen, sozialen und ökologischen Zukunftspakt. Die beginnenden Tarifgespräche weckten Hoffnung auf eine stärkere gemeinsame Interessenvertretung. Und dann kam Corona.

Nach fünf Wochen Ausnahmezustand im Betrieb ist noch keine Zeit zum Durchatmen. Alles ist anders, weil so viele Probleme gleich geblieben sind. Gerade deswegen sollten wir uns die Zeit für Erfahrungsaustausch und erste Bilanzierung nehmen.

Gesundheitsschutz für die Beschäftigten hat oberste Priorität.

In allen Betrieben, die nicht durch die Regierung geschlossen wurden, müssen zum Schutz der Beschäftigten Maßnahmen getroffen werden. Diese sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz mitbestimmungspflichtig und erfordern die Einbeziehung des Betriebsrats.

Mit der Betriebsleitung sind eine Reihe von Fragen zu klären, möglicherweise auch täglich neu. Welche Tätigkeiten müssen zwingend im Betrieb geleistet werden? Welche Schutzmaßnahmen sind für diese Arbeit zu organisieren? Wie kann sichergestellt werden, dass besonders gefährdete Kolleginnen und Kollegen aus Risikogruppen bezahlt von der Arbeit freigestellt werden? Wer kann im Home Office arbeiten? Welche Arbeitsmittel benötigt sie dazu? Welche besonderen physischen und psychischen Belastungen ergeben sich aus dieser "Heimarbeit" und wie können sie reduziert werden?

Auch und gerade beim Gesundheitsschutz geht es immer wieder um die Kosten. Klar ist aber auch: Wo gearbeitet wird, gelten Arbeitsschutzgesetz und Mitbestimmung. Wo gearbeitet wird, werden die Kosten aus Betriebsmitteln bestritten, und nicht aus den Taschen der Beschäftigten!

Die Betriebsräte müssen arbeitsfähig bleiben.

Das Betriebsverfassungsgesetz schreibt aus gutem Grund vor, dass Betriebsratsbeschlüsse nur in Anwesenheit aller Betriebsrät*innen gefasst werden dürfen. Diese so genannten "Präsenzsitzungen" sind in vielen Betrieben derzeit nicht möglich. Der Bundesarbeitsminister hat vorgeschlagen, vorübergehend auch Telefon- und Videokonferenzen zuzulassen, die IG Metall hat sich dieser Sichtweise angeschlossen. Davon ausgehend sollte es überall möglich sein, beschlussfähige Gremien einzuberufen. Allerdings deckt das nur einen Teil der notwendigen Arbeit ab.

Eine große Schwierigkeit steckt derzeit darin, die Kolleginnen und Kollegen überhaupt noch zu erreichen. Ohne elektronische Kommunikation geht nichts mehr, wenn aus unterschiedlichen Gründen ein großer Teil der Belegschaft nicht mehr im Betrieb anzutreffen ist. Daher benötigen unter Umständen weit mehr Betriebsrät*innen als bisher neue Arbeitsmittel wie Notebooks, Webseiten, Social Media Auftritte, Email-Verteiler und Mobiltelefone. Der direkte Kontakt zur Belegschaft und der Aufbau von Kommunikationsnetzwerken sind unabdingbar. Das gilt übrigens auch für die gewerkschaftlichen Funktionäre im Betrieb, denen der elektronische Weg oft untersagt wird. Was aber soll der Aushang am "Schwarzen Brett", wenn dort niemand mehr vorbeigeht?

Solidarität muss organisiert werden!

Unter schwierigsten Bedingungen und großem Zeitdruck haben die Tarifkommissionen der IG Metall einen "Solidartarifvertrag" abgeschlossen. Geregelt sind Weitergeltung der Entgelttarife, der Ausbau der Kurzarbeit statt Entlassungen, die Möglichkeit für Eltern in der Kinderbetreuung, bis zu 13 Tage von der Arbeit freigestellt zu werden, sowie ein Finanzierungsbeitrag von 350 Euro pro Beschäftigtem, der nach Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Betriebsleitung zur Abfederung sozialer Härten verwendet werden soll. Diese Lösungen sind gut, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Schon jetzt ist klar, wir brauchen für Kolleginnen und Kollegen, deren Betriebe insolvent werden, für Beschäftigte in Kurzarbeit, für betrieblichen Gesundheitsschutz, für Beschäftigte in Kinderbetreuung und Angehörigenpflege weitaus mehr Vereinbarungen. Betriebsrät*innen, Vertrauensleute und Tarifkommissionen sollten sich nicht scheuen, notwendige Maßnahmen einzufordern. Der "Schutzschirm" der Bundesregierung für die Konzerne ist mit enormen Summen gefüllt. Die Auszahlung muss an Bedingungen geknüpft werden, die Arbeitsplätze, Einkommen und Gesundheit sichern.

Erfahrungsaustausch und Kommunikation über Betriebsgrenzen hinweg wäre jetzt notwendig. Solidarität muss organisiert werden.

Isa Paape
Betriebsrätin und Vertrauensfrau
Siemens Gas and Power GmbH Erlangen

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